Es ist eine Krux, die Sache mit der Selbstwahrnehmung. Sie täuscht uns, verunsichert und lässt Dinge, Situationen, Menschen oder Tiere in völlig unterschiedlichem Licht erscheinen. Warum ist das so gefährlich – und warum sollte man ihr nicht blind vertrauen?
Schon in meinen frühen Jahren als Pferdetrainerin habe ich erlebt, wie groß die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung sein kann. Menschen haben ein völlig anderes Bild von ihren Pferden oder ihrer Beziehung zu ihnen, als es sich von außen darstellt. Hier ein paar Beispiele:
1.
Selbstwahrnehmung:
„Mein Pony liebt es, bergab zu rennen. Bei jedem Abhang wird er schneller, bis wir unten sind.“
Beobachtung von außen:
Das Pony hatte keinerlei Balance. Es konnte sich mit Reiter bergab nicht tragen. Die Beschleunigung war kein Spaß, sondern purer Kontrollverlust.
2.
Selbstwahrnehmung:
„Mein Pferd steht super fein an den Hilfen, es reagiert auf jeden kleinsten Impuls.“
Beobachtung von außen:
Das Pferd war angespannt, die Augen weit offen. Es reagierte nicht weich, sondern aus Sorge – aus der Angst, Fehler zu machen.
3.
Selbstwahrnehmung:
„Meine Sissy ist so brav und geduldig!“
Beobachtung von außen:
Ein abgeschaltetes Pferd, das ohne jedes Interesse funktioniert – und den Weg des geringsten Widerstands geht.
4.
Selbstwahrnehmung:
„Im Gelände klappt es super, er hat richtig gutes Go!“
Beobachtung von außen:
Ein angespanntes Pferd, das so schnell wie möglich wieder nach Hause in die sichere Umgebung wollte.
5.
Selbstwahrnehmung:
„Mein Pferd und ich haben eine sehr innige Beziehung.“
Beobachtung von außen:
Gesagt, während der Mensch hinter seinem Pferd hergezogen wurde, das sich lieber Gras als Gesprächen widmete.
Woher kommt diese Diskrepanz?
Zum einen haben wir alle unterschiedliche Filter. Unsere Erfahrungen, unsere Vergangenheit, unsere Lehrer und Einflüsse prägen, was wir sehen – und was wir übersehen. Wir verknüpfen Dinge manchmal falsch oder lassen uns von Wünschen und Träumen blenden. Und: Was wir nicht kennen, können wir nicht erkennen.
Ein Beispiel aus dem Reitersitz:
Ein Reiter, der jahrelang ohne Korrektur nach hinten oder vorne geneigt sitzt, speichert diese Haltung als „gerade“ ab. Wird er in Balance gebracht, fühlt er sich völlig schief. Mit Fotos lässt
sich leicht zeigen: Gerade fühlt sich oft „falsch“ an. Manche Reiter entwickeln dann sogar die Überzeugung: „Wenn es sich falsch anfühlt, dann ist es richtig.“ – Die Selbstwahrnehmung ist also
mehr als trügerisch.
Noch ein Beispiel:
Ich bin kein Freund von baumlosen Sätteln (bitte hier nicht auf diese Nebendiskussion springen). Ein Reiter, der nur baumlos kennt, wird mir versichern, wie stabil er sitzt. Fragt man aber
jemanden, der den Unterschied zu einem passenden Sattel kennt, fällt die Antwort oft sehr gegenteilig aus. Erfahrung schafft Vergleich – und damit auch eine fundiertere Wahrnehmung.
Wer nie ohne Sattel geritten ist, schwört vielleicht genau darauf. Doch ohne Vergleich bleibt das Urteil einseitig. Fehlt das Bewusstsein für Balance, kann man sie nicht beurteilen. Fehlt das Bewusstsein für Entspannung, wirkt ein angespanntes Pferd womöglich „super fein“.
Und hier kommt ein Satz, der mich seit 30 Jahren begleitet – von meinem damaligen Pferdetrainer:
„Wenn du es nicht siehst, dann siehst du es einfach nicht. Wenn du es aber einmal gesehen hast, wunderst du dich, warum du es vorher niemals sehen konntest.“
Selbstwahrnehmung ist tricky. Deshalb empfehle ich jedem, offen für Input zu bleiben. Das heißt nicht, dem eigenen Gefühl nicht zu vertrauen. Aber es heißt, abzuwägen: Könnte meine Wahrnehmung getäuscht sein? Ist da vielleicht etwas dran an dem, was mir jemand spiegelt?
Selbstwahrnehmung zu hinterfragen ist unbequem – aber es ist der Schlüssel, den eigenen Horizont zu erweitern.
Und jetzt meine Frage an dich: Wo bist du selbst schon einmal in die Falle der Selbstwahrnehmung getappt – vielleicht mit deinem Pferd, vielleicht auch in ganz anderen Situationen? Was hast du daraus gelernt?
Im Sinne des Pferdes.
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