· 

Wenn Funktionieren zur Überlebensstrategie wird

 

Wenn Funktionieren zur Überlebensstrategie wird

Neulich habe ich ein Pferd im Round Pen gearbeitet. Eine neue Einstellerin stand am Rand, beobachtete uns eine Weile und begann dann, interessiert Fragen zu stellen. Ich erklärte ihr, worum es mir in meiner Arbeit wirklich geht – um die Fähigkeit, dem Gefühl zu folgen, um eine weiche, klare Kommunikation ohne Stress, um eine Durchlässigkeit, die nicht im Körper, sondern im Kopf entsteht.

Das Pferd, mit dem ich an diesem Tag arbeitete, war in dieser Art der Kommunikation noch ganz am Anfang. Es versuchte sich zurechtzufinden, tastete sich an Möglichkeiten heran, und ich half ihm, Antworten auf Fragen zu finden, die ihm selbst noch nicht ganz bewusst waren. Es ging nicht darum, dass er etwas „macht“. Es ging darum, dass er sich zeigt.

Die Einstellerin erzählte mir daraufhin voller Stolz, was für ein Glück sie doch mit ihrem Pferd habe – es sei einfach so brav, mache alles mit, funktioniere bei allem, was man mit ihm vorhat. Ich nickte, atmete durch, und versuchte ihr zu erklären, dass genau dieses Funktionieren kein Ziel meiner Arbeit ist. Ihr Gesicht zeigte in diesem Moment viele Fragezeichen – und ich kenne diesen Blick nur zu gut.

Denn Funktionieren tut bei uns bestenfalls die Waschmaschine. Oder der Staubsaugroboter – unserer heißt übrigens Gisela, und ich muss sagen, sie macht ihren Job mit bemerkenswerter Zuverlässigkeit. Aber Pferde? Nein. Pferde sind keine Haushaltsgeräte. Sie sollen nicht funktionieren – sie sollen sich zeigen dürfen, in all ihrem Sein, mit ihren Bedürfnissen, Unsicherheiten, Themen. Und wenn wir ihnen erlauben, sich zu zeigen, dann können wir ihnen wirklich helfen, Dinge zu verarbeiten, loszulassen, zu wachsen.

Dafür braucht es Vertrauen. Aber nicht nur das. Denn Vertrauen allein reicht oft nicht aus, wenn das Pferd in seinem Innersten immer noch Überlebensstrategien festhält, die es irgendwann einmal dringend gebraucht hat. Ich kenne viele Pferde, die ihren Menschen vertrauen – und trotzdem nie wirklich alte Blockaden loslassen konnten. Genau hier bewegen wir uns ein Stück weit in den Bereich der emotionalen Therapie.

Gerade Pferde, die schwierige Erfahrungen gemacht haben, lernen häufig, sich zu arrangieren. Sie entwickeln Verhaltensmuster, von denen sie überzeugt sind, dass sie ihnen geholfen haben zu überleben – oder zumindest, stärkerem Schmerz zu entkommen. Man denke nur an die weitverbreitete Kopfscheuheit: Ein Verhalten, das tief im Pferd verankert ist, weil es irgendwann einmal verinnerlicht hat, dass eine bestimmte Bewegung, eine bestimmte Nähe des Menschen, gefährlich sein könnte. Und dann wird daraus ein Überzeugungssatz, tief im Innersten verankert: Wenn ich das nicht tue, sterbe ich.

Diese Muster zu durchbrechen bedeutet, dem Pferd zu helfen, eine neue Wahrheit zu entdecken. Eine, die sich nicht auf alte Angst stützt, sondern auf gelebte Erfahrung. Natürlich reicht es in solchen Fällen nicht aus, das Pferd einfach nur liebevoll zu behandeln. Genau wie in einer menschlichen Therapie ist es manchmal notwendig, hinzusehen, die Angst auszuhalten, ja das Thema auf den Tisch zu packen,  sie zu durchleben – damit sie sich auflösen kann.

Denn wenn ein Pferd tatsächlich davon überzeugt ist, dass es stirbt, wenn es ein bestimmtes Verhalten loslässt, braucht es einen Gegenüber, der diese Überzeugung nicht einfach nur duldet und sich arrangiert, sondern sie respektvoll begleitet, bis das Pferd selbst erkennt: Ich bin sicher. Ich muss das nicht mehr tun.

Und ja, dieser Prozess kann mit viel Adrenalin einhergehen. Es kann unruhig werden, hektisch, nicht „hübsch“ im klassischen Sinn. Da ist vielleicht ein angespannter Körper, da sind große aufgerissene Augen, da ist Bewegung. Aber all das ist für einen kurzen Moment – verglichen mit einem Leben voller unterschwelliger Anspannung, die niemals ganz nachlässt.

Für mich ist es das allemal wert. Denn das, was auf der anderen Seite dieses Prozesses wartet, ist echte Lebensqualität. Ein Pferd, das nicht mehr glaubt permanent auf der Hut sein zu müssen, das nicht mehr innerlich in Habachtstellung ist, das endlich bei sich ankommen darf. Das aufatmen kann und in der Umgebung mit Menschen entspannen kann.

Ich weiß, es gibt viele Stimmen da draußen, die sagen: „Ach, das braucht es doch nicht. Liebe und Geduld reichen.“
Ich wünschte, es wäre so einfach. Aber ich sehe zu viele Pferde, die still geworden sind, die in sich gekehrt sind, weil die Last des inneren Drucks sie irgendwann zum Rückzug gezwungen hat. Pferde, die gelernt haben zu „funktionieren“, aber nicht zu fühlen.

Doch wenn ich dann miterleben darf, wie sich plötzlich etwas löst, wie ein Blick wieder wach wird, wie ein Pferd auflebt, beginnt zu fühlen, zu kommunizieren – dann weiß ich jedes Mal aufs Neue, dass es sich gelohnt hat.

Denn ein Pferd, das nicht mehr funktionieren muss, ist ein Pferd, das sich selbst wieder spüren darf. Das seinem Gefühl folgt, statt alten Mustern.
Und das ist für mich das wahre Ziel – Pferde, die vertrauensvoll, klar und aufgeräumt sind, die in ihrer Balance sind. Die nicht länger die Altlasten ihres Lebens mit sich herumtragen, weil niemand sie gesehen hat oder ihnen helfen konnte sie zu verarbeiten und loszulassen.

Deshalb beginnt meine Arbeit immer damit, hinzuschauen. Nicht auf das, was das Pferd für mich tun kann – sondern auf das, was es mir zeigt. Auf das, was gesehen, gefühlt und verstanden werden möchte. Denn nur wenn ein Pferd sich in seiner Ganzheit zeigen darf, kann es loslassen, wachsen und zu sich selbst zurückfinden.

Kein  Verhalten ist einfach nur „da“ – es ist immer ein Ausdruck tiefer Überzeugungen, alter Erfahrungen, überlebenswichtiger Strategien. Und wenn wir uns trauen, gemeinsam mit dem Pferd durch diesen Prozess zu gehen, dann geschieht etwas Kostbares: Es entsteht Raum. Raum für neue Erfahrungen, für Leichtigkeit, für echtes Wohlbefinden.

Ein Pferd, das nicht mehr funktionieren muss, sondern fühlen darf – das ist für mich ein freies Pferd. Und das ist es, was ich mir wünsche.

 

Im Sinne des Pferdes.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0