· 

Wenn hinschauen weh tut

Wenn Hinsehen weh tut.
Ein persönlicher Einblick in die stille Gewalt gegenüber Pferden – und das Gefühl, ohnmächtig zu sein.

Es fällt mir nicht leicht, diesen Text zu schreiben. Ich habe ihn in Gedanken schon oft formuliert und wieder verworfen.
Denn was ich zu sagen habe, ist schwer.
Schwer auszuhalten, schwer in Worte zu fassen, schwer zu ertragen – und dennoch unausweichlich.
Vielleicht schreibe ich ihn auch für mich.
Weil ich etwas tun muss. Weil das Schweigen mich sonst innerlich auffrisst.
Weil Wegsehen nicht in Frage kommt.


Manchmal wünschte ich, ich hätte es nicht gesehen.

Heute möchte ich etwas teilen, das mich seit Langem bewegt – doch in den letzten Tagen hat es mich wieder mit voller Wucht getroffen.
Es ist nichts Neues, nichts, was ich nicht schon einmal erlebt hätte, und doch schmerzt es jedes Mal auf eine andere, fast unerträgliche Weise.
Ich habe keine Lösung dafür, keine Antwort. Nur dieses bedrückende Gefühl, das sich in meinem Inneren ausbreitet – ein Knoten aus Ohnmacht, Wut und stillem Schmerz.

In meinem Beruf als Sattelpassformberaterin bin ich viel unterwegs. Ich komme in viele Ställe, sehe viele Pferde, viele Reiter, viele Arten zu reiten und mit dem Pferd umzugehen.
Oft heißt es lapidar: „Man kommt halt rum.“
Aber ich habe festgestellt, dass dieses Herumkommen nicht nur Türen öffnet, sondern auch Abgründe. Und manchmal wünschte ich, ich würde weniger sehen, weniger wahrnehmen, weniger wissen. Denn was ich sehe, lässt sich nicht mehr vergessen. Und mit diesem Wissen kommt eine Verantwortung, die oft mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet.

Ich fühle mich verantwortlich – und gleichzeitig machtlos.
Denn so sehr es mich innerlich aufwühlt, was ich beobachte, so wenig scheinen andere es überhaupt wahrzunehmen.
Wegsehen ist für mich keine Option. Aber manchmal frage ich mich, was das Hinschauen eigentlich bewirkt, wenn es am Ende nichts verändert.

Ich erinnere mich an einen Tag in einer Reithalle. Ich war mit einer Kundin dort, wir probierten einen neuen Sattel aus, sprachen über Sitz und Balance, arbeiteten an feinen Hilfen.
Währenddessen saß in einer Ecke eine Reitlehrerin mit Headset, ihre Anweisungen erreichten  zwei junge Frauen die versuchten, sie mit ihren Pferden umzusetzen.
Ich achtete darauf, niemandem im Weg zu sein, bewegte mich mit meiner Kundin im Zentrum, konzentrierte mich auf unsere Arbeit – bis mein Blick an einem anderen Pferd hängen blieb. Und nicht mehr loskam.

Der braune Wallach der dort unter einer der Reiterinnen ging, hatte seine Zunge zur Seite aus dem Maul geschoben, sie baumelte schlaff, als gehöre sie nicht mehr zu ihm. Sein Schweif schlug unentwegt, sein Rücken war verspannt, der Bewegungsfluss wirkte unterbrochen, ja beinahe schmerzhaft gehemmt.
Reithalfter und Sperrriemen waren bis auf den letzten Millimeter zugeschnürt, als hätte man sein Maul mit Gewalt versiegelt.
Wie er es dennoch schaffte, die Zunge zur Seite herauszuschieben, bleibt mir ein Rätsel – vielleicht war es ein verzweifelter Versuch, überhaupt noch Luft zu bekommen, ein letzter stiller Protest, ein Ausdruck des inneren Schreis, den niemand hören wollte.

Es war ein Anblick, der mich nicht mehr losließ.
Ich versuchte, mich nicht ablenken zu lassen, aber meine Augen wanderten immer wieder zu ihm. Etwas in seinem Ausdruck, in seinem Körper sprach so laut von Unwohlsein, von Überforderung, von innerer Enge, dass es mir schwerfiel, einfach nur still meinen Job zu machen.

Später erzählte mir meine Kundin, dass der Wallach sich in der Vergangenheit auffällig gegen die harte Reiterhand gewehrt hatte. Er sperrte sein Maul auf, zeigte, dass ihm etwas zu viel war – und als Reaktion darauf wurde ihm das Maul mit engsten Verschnallungen verschlossen. Kein Platz mehr für Widerstand. Kein Raum mehr für Luft. Nur ein Korsett aus Leder und Druck.
Der letzte Ausweg: die Zunge zur Seite zu legen, um überhaupt noch atmen zu können. Es war, als hätte er sich selbst aus dem Weg geräumt, um zu überleben. Erstaunlicherweise, störte sich außer mir, niemand an dieser Zunge, weder die Reiterin und Besitzerin, noch die Reitlehrerin, der Aufschrei der Stute wurde schlichtweg ignoriert.

Die Reitlehrerin, wie ich später erfuhr, ist nicht nur Ausbilderin, sondern auch die Besitzerin der gesamten Anlage. Sie ist bekannt für ihre harte Linie, für Disziplin. Und offenbar trifft sie damit auf breite Zustimmung.

Einige Wochen später war ich wieder dort, diesmal auf dem Außenplatz. Es war ein brütend heißer Tag, über 30 Grad, die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel, kein Schatten weit und breit.
Neben meiner Kundin ritt eine junge Frau einen großen, kräftigen Warmblutwallach, ein beeindruckendes Tier voller Ausdruck und Kraft. Doch seine Kraft war gebändigt, fixiert, heruntergezogen in Ausbinder, sein Kopf tief und weit hinter der senkrechten, der Rücken fest, die Bewegungen mechanisch und gehetzt.
Runde um Runde galoppierte er motiviert von den Sporen der Reiterin, während sie gleichzeitig mit einer erschreckenden Härte am Zügel agierte – ohne jede Empathie, ohne jedes Mitgefühl und leider auch ohne verständliche Botschaft für das Pferd.
Die Augen des Wallachs waren weit aufgerissen, sein Blick gequält, aber er lief weiter. Er tat, was man von ihm verlangte.
Ich sah ihm zu – und mir wurde kalt inmitten dieser Hitze.

Meine Kundin bestätigte mir, was ich längst ahnte: Auch das ist hier Alltag. Diese Art zu reiten wird nicht hinterfragt, sie wird gefordert, ja sogar erwartet.
Die Besitzerin der Anlage gibt den Ton vor – und wer dazugehören will, passt sich an.
Es wird hart geritten, mit Zwang und Kontrolle, mit Druck und Gewalt.
Und die Pferde? Sie fügen sich. Nicht aus Vertrauen, sondern aus Resignation.

Ich wollte etwas sagen, wollte etwas tun, wollte wenigstens ein Zeichen setzen.
Aber ich wusste: Ein Wort – und ich wäre gegangen worden.
Nicht die Gewalt wäre das Problem gewesen, sondern meine Stimme.

So schwieg ich.
Aber in mir tobte es.

Ich fragte mich, wie das sein kann – wie es sein kann, dass in einer Zeit, in der Wissen und Bewusstsein über feines Reiten, über biomechanische Zusammenhänge, über Ethik und Verantwortung längst vorhanden sind, noch immer solche Zustände herrschen.
Haben wir denn nichts gelernt?

Wie soll ein Pferd schön galoppieren, wenn es mit Gewalt in eine Haltung gezwungen wird, die jede Leichtigkeit unmöglich macht?
Wie soll ein Körper sich öffnen, wenn er festgeschnallt und unterdrückt wird?
Wie soll eine Seele vertrauen, wenn sie gebrochen wird?

Auf dem Heimweg liefen mir die Tränen ich weinte aus Wut, aus Schmerz, aus Ohnmacht.
Ich fühlte mich klein, hilflos und sprachlos.
Was hätte ich tun können? Was darf man sagen, wenn die Wahrheit nicht gewünscht ist?

Und dann stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn die Rollen vertauscht wären.
Wenn wir Menschen gequält würden – festgeschnallt, geschlagen, missverstanden –
und die Tiere würden vorbeigehen. Vielleicht würden sie kurz hinschauen. Vielleicht würden sie kurz betroffen sein. Und dann weitergehen, so wie ich es tat!
Zurück zu ihrer Arbeit, zu ihrem Alltag. Und wir wären allein mit unserem Schmerz, unserer Angst. Wie würde sich das anfühlen? Müssen sie nicht das Gefühl haben, dass es niemanden interessiert?

Und vielleicht ist genau das der schlimmste Schmerz.


Vielleicht braucht es manchmal jemand der mitfühlt.
Ein Augenpaar, das nicht wegschaut.
Ein Herz, das sich nicht damit abfindet.
Und eine Stimme, die leise sagt: Das ist nicht in Ordnung.

Denn vielleicht beginnt Veränderung nicht dort, wo wir laut aufstampfen –
sondern dort, wo wir uns berühren lassen.
Wo wir fühlen, statt zu funktionieren.
Wo wir wieder sehen lernen, was längst verdrängt wurde.

Für diese Pferde – und für alle, die fühlen wie ich.

Heute bin ich übermannt von der Hilflosigkeit nichts ändern zu können. Heute bin ich traurig für die Pferden denen ich nicht helfen kann. Und morgen, mache ich weiter Im Sinne des Pferdes, denn ich gebe nicht auf!

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0