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Besetzte Stühle

Von besetzten Stühlen und dem Hier und Jetzt
Eine kleine Heldengeschichte von Prinz, Petra – und einem Raum voller Stühle

Petra gehört mittlerweile fast schon zum Inventar meiner Kurse – sie kommt seit Jahren, manchmal sogar zweimal jährlich, immer mit einem Lächeln im Gesicht und ihrem kleinen Schimmelchen im Gepäck: Prinz. Wobei – am Anfang war „Prinz“ eher der Spitzname eines nervösen Pulverfasses mit vier Beinen und Adelskomplex.

Prinz hatte eine schwere Vergangenheit. Eine, bei der viele Pferde für immer die Tür zum Vertrauen zuschließen. Und ehrlich gesagt: Am Anfang war Prinz kein Pferd, bei dem man sich gemütlich dazusetzt. Eher eins, bei dem man denkt: „Wenn ich jetzt blinzele, brennt der Reitplatz.“

Flucht war sein bester Freund. Und wenn das nicht half, kam Plan B: Angriff. Nicht, weil er böse war – sondern einfach nur weil er das dringende Bedürfnis hatte sich zu schützen. Petra liebte ihn trotzdem. Oder vielleicht gerade deshalb. Und sie erzählte – in den ersten Kursen – viel von seiner Vergangenheit. Von den dunklen Tagen, von den Wunden, innen wie außen. Und jedes Mal, wenn jemand fragte: „Was hat er denn erlebt?“ – dann rollte sie das ganze Drama-Spielfeld aus.

Bis zu dem einen Tag.

Ich stellte Petra eine Frage, die ihr Leben mit Prinz verändern sollte:
„Stell dir vor, du hast 5 Stühle in deinem Inneren. Auf jedem Stuhl passt nur eine Sache, was du deinem Pferd geben kannst: Energie, Aufmerksamkeit, Gedanken, Gefühle, Klarheit. Dein ganz persönliches Mentalkapital. Wenn du jetzt zwei davon mit der Vergangenheit belegst, einen mit Mitleid und einen mit Zweifeln – was bleibt dann noch übrig für Klarheit, Mut und Vertrauen? Ein einziger Stuhl. Eng, oder? Und bedenke, die Mehrheit der Stühle bestimmt in welche Richtung die Entwicklung stattfindet.“

Petra schwieg. Und man konnte förmlich sehen, wie sie in Gedanken ihre Stühle neu arrangierte.

Seitdem hat sich etwas verändert. Sie hat angefangen, die Vergangenheit von Prinz nicht zu vergessen – aber sie hat ihr den Ehrenplatz im Archiv gegeben, nicht mehr mitten im Wohnzimmer. Und was soll ich sagen? Der Prinz von damals wich einem Partner, der entspannt. Der weich wird und durchlässig. Der bleibt. Der in Beziehung tritt. Denn Petra verschwendet keine Stühle mehr für Sachen die nicht dienlich sind.

Ja, Prinz hat sich verändert, Petra auch. Und vielleicht – ganz vielleicht – war sie am Ende die wahre Heldin dieser Geschichte. Denn sie hat begriffen, dass Liebe nicht nur bedeutet, jemanden zu halten – sondern auch, ihn aus der Vergangenheit zu entlassen und ihn jeden Tag aufs neue als das zu nehmen was er ist.

Aber diese Geschichte handelt nicht nur von Petra und Prinz. In meinen Kursen passiert es regelmäßig, dass Teilnehmer fragen:
„Was hat das Pferd denn erlebt?“

Und ganz ehrlich? Ich will es oft gar nicht wissen. Es sei denn, es geht um meine eigene Sicherheit. Wenn ein Pferd plötzlich um sich tritt oder beißt, muss ich das wissen – logisch. Aber ich muss nicht jedes Kapitel aus dem Leidensbuch hören, das dazu geführt hat. Zu viel Wissen kann unser Bild verzerren. Es verleitet dazu, das Pferd in eine Schublade zu stecken, mit der Aufschrift: „Schwierig“, „Traumatisiert“ oder „Unberechenbar“.

Es ist wichtig, dem Pferd die Chance zu geben, im Hier und Jetzt zu sein. Es ist egal, was letztes Jahr oder letzten Monat war. Was zählt, ist das, was es heute sagt – mit seinem Körper, seinem Ausdruck, seinem Verhalten.

Zu viele Geschichten aus der Vergangenheit wirken wie ein Stapel Sticky Notes auf dem Pferd:
„Vom Schmied geschlagen“ – klebt am linken Ohr.
„Aus der Narkose aufgewacht und um sich getreten“ – direkt überm Auge.
„Zehn Vorbesitzer“ – Rückenmark vollgeklebt.
„Fast verhungert“ – klebt am Bauch.
„Stallburschen gezwickt“ – rechts am Maul.
„Losgerissen und nach Hause gerannt“ – auf der Kruppe. Man könnte das unendlich fortsetzen aber ich glaube Du versteht was ich damit ausdrücken möchte.

Was machen all diese Notizen? Sie überlagern das Pferd, das jetzt vor uns steht. Sie machen es schwer, klar zu sehen. Sie trüben unser Einschätzungsvermögen und steuern unsere Reaktionen – oft unbewusst. Und was sie ganz sicher verhindern, ist ein Dialog im Hier und Jetzt, der offen, frei und unbelastet ist.

Wer kennt das nicht?
Eine Unterrichtseinheit läuft, der Trainer sagt etwas, der Schüler richtet seine volle Aufmerksamkeit auf ihn – und das Pferd?
Bleibt stehen.
Einfach so.
Weil es spürt: Mein Mensch ist gerade woanders.

Pferde sind Meister darin, feine Veränderungen in unserer Präsenz wahrzunehmen.
Wenn sie schon auf so kleine Verschiebungen im Fokus reagieren – wie sollen sie dann klarkommen, wenn der Kopf ihres Menschen gleichzeitig fünf Programme abspult, die noch dazu nicht zusammenpassen?

Petra hat ausgeräumt. Und Prinz darf nun der sein, der er heute ist. Kein Etikett, kein Trauma-Stempel, keine alten Geschichten. Einfach: Prinz, ganz echt. Und genau so fängt Veränderung an!

Denn was wirklich zählt, ist nicht das Drama von gestern – sondern die Entscheidung von heute.
Was packst du auf deine fünf Stühle?

In diesem Sinne mal wieder was zum Nachdenken.

Und immer im Sinne des Pferdes

 

Simone Carlson

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