„Wenn Liebe allein nicht reicht: Wie Vermenschlichung die Beziehung zum Pferd beeinflusst“
Juliane und Otis
„Liebe Frau Carlson,
ich habe seit 1,5 Jahren einen 15 jährigen Wallach, der sehr ängstlich ist und sich immer wieder losreißt. Sowohl in kleinen Gruppen, als auch alleine, kehrt er leider sehr oft ohne mich
zum Stall, zur Herde zurück.
Wir haben eine vertrauensvolle Verbindung, in der ich ihn zu nichts zwingen möchte, da er ja scheinbar sowieso schon so traumatisiert ist. Ich habe mich entschieden ihn vorerst nur vom Boden aus zu
arbeiten, bis er bereit ist mir zu Vertrauen. Ich mache Spaziergänge durch den Wald mit ihm und begleite ihn, während ich ihm die Zeit gebe die er braucht, um die Welt kennen zu lernen.
Ich glaube durch meine Begleitung ihm den notwendigen, sicheren Raum zu geben, den er braucht, um sich zu entfalten, um sich alles genau anzuschauen, um zu erkennen, dass es ihn nicht
ängstigen muss, sondern alles Safe ist für ihn. Und obwohl ich nicht ungeduldig bin und ihn nicht dränge oder Druck ausübe, wird er immer wieder so unruhig, dass er sich losreißt und zu
seiner Herde zurückläuft. Können Sie ihm / uns helfen?“
Pferde verstehen: Der Weg zu Harmonie und Vertrauen
Manchmal sind es die besten Absichten, die in der Pferdewelt zu den größten Missverständnissen führen. Handlungen, die auf Fürsorge abzielen, verfehlen oft das eigentliche Ziel, weil sie
die grundlegenden Verhaltensweisen und Bedürfnisse der Pferde nicht berücksichtigen. Als erfahrene Pferdeexpertin begegnen mir solche Situationen immer wieder – und jedes Mal wird klar,
wie entscheidend es ist, das Pferd richtig zu lesen und auf seine Bedürfnisse einzugehen.
Woher kommt der Wunsch nach einer laissez-fairen Erziehung bei Pferden? Besonders bei Frauen ist diese Herangehensweise oft zu beobachten – und das aus nachvollziehbaren Gründen. In einer
Welt, die von Dominanz, Konkurrenz und Leistungsdruck geprägt ist, sehnen sich viele nach einer Partnerschaft auf Augenhöhe, nach Harmonie und Verständnis.
Im Berufsleben heißt es leider immer noch viel zu oft, sich mit Ellbogen durchzusetzen, ständig auf der Hut zu sein und Leistung zu bringen. Kein Wunder, dass man im Privatleben den Druck
loslassen möchte. Mit dem Pferd soll eine Oase der Ruhe entstehen, ein Ort, an dem Vertrauen und Liebe regieren. Doch dieser Wunsch, mit dem wundervollen Wesen Pferd in liebender Harmonie
zu sein spielt dabei eine entscheidende Rolle: „Schau, wie viel ich dir gebe, du kannst mir bei allem vertrauen.“
Diese liebevolle, aber oft vermenschlichende Einstellung mag aus dem Herzen kommen, doch sie verkennt, dass Pferde nicht in dieser Logik denken. Pferde suchen keine bedingungslose
Liebenswürdigkeit, sondern Klarheit, Sicherheit und Führung. Sie vertrauen nicht, weil wir nett zu ihnen sind, sondern weil wir ihnen Orientierung und Stabilität geben. Der Wunsch nach
Harmonie ist schön, doch echte Harmonie entsteht erst, wenn wir die Sprache der Pferde sprechen und ihre Denkweise respektieren.
Pferde und Menschen könnten unterschiedlicher kaum sein. Während wir als Jäger und Sammler evolutionär geprägt wurden, ist das Pferd ein Flucht- und Herdentier – ein Überlebenskünstler,
der Gefahr instinktiv durch Flucht begegnet. Wo der Mensch auf Problemlösung, Kommunikation und Individualität setzt, vertraut das Pferd auf sein feines Gespür, seine Herde und schnelle
Reaktionen. Diese Unterschiede, geformt durch Millionen Jahre Evolution, prägen ihr Verhalten und ihre Bedürfnisse tief.
Wer ein Pferd wirklich verstehen will, muss diese Unterschiede erkennen und respektieren. Denn nur so entsteht eine Beziehung, die auf Vertrauen, Respekt und Harmonie basiert – eine
Verbindung, die Mensch und Tier gleichermaßen bereichert.
Respektvoller Umgang mit Pferden bedeutet auch, sich von Vermenschlichung zu lösen. Dieses menschliche Bedürfnis nach Nähe und Einigkeit führt oft zu Missverständnissen im Umgang mit
Pferden, weil ihre Instinkte fundamental anders sind. Echter Respekt beginnt damit, Pferde als das zu sehen, was sie sind: Flucht- und Herdentiere mit tief verwurzelten sozialen
Strukturen und natürlichen Verhaltensweisen.
Besonders bei Jungpferden oder ängstlichen Pferden wird deutlich, wie lebenswichtig klare Führung und Sicherheit für sie sind. Pferde brauchen eine starke, sichere Hand, die ihnen Halt
gibt und sie durch Unsicherheiten leitet. Doch was passiert, wenn der Mensch – oft aus dem Wunsch nach „Freiraum“ – keine klare Richtung vorgibt? Das Pferd fühlt sich verloren,
Unsicherheit breitet sich aus. Diese Unsicherheit verwandelt sich schnell in unkontrolliertes Verhalten, das für beide Seiten gefährlich werden kann.
Das Ergebnis ist ein schmerzhafter Teufelskreis: Das Pferd verliert die Orientierung, der Mensch versucht verzweifelt, hinterherzukommen, und die Kontrolle gleitet aus den Händen. Doch es
gibt Hoffnung – und einen Weg aus diesem Kreislauf.
Ein Beispiel dafür zeigt Juliane mit ihrem Pony Otis. Während sie Otis früher passiv führte und ihm überließ, wo er schnuppern möchte, übernimmt sie jetzt die Führung. In bewusst
geführten Schlangenlinien gibt sie vor, wohin der Weg führt, und lädt ihn ein an bestimmten Stellen, bewusst zu schnuppern. Durch ihr klares und kompetentes Auftreten gibt sie Otis die
Sicherheit, die er benötigt, um bei ihr bleiben zu wollen . Die beiden führen nun einen lebhaften Dialog, der Otis das Gefühl gibt, verbunden zu sein. Sein Wunsch, zurück zur Herde zu
fliehen, nimmt ab. Stattdessen lernt er, sich und sein Leben Juliane anzuvertrauen.
Es gibt also Hoffnung – und einen Weg aus diesem Kreislauf. Der Schlüssel liegt in klarer Kommunikation, einfühlsamer Führung und einem tiefen Verständnis für das Wesen des Pferdes. Wenn
wir ihre Sprache lernen und ihnen die Sicherheit geben, die sie so dringend brauchen, entsteht etwas Magisches: echtes Vertrauen, eine unsichtbare Verbindung und die Harmonie, nach der
wir uns alle sehnen.
Nur wenige Wochen später, bekam ich diesen sehr ehrlichen reflektierten Brief den ich mit Euch teilen darf:
Liebe Simone,
ich möchte dir von Herzen danken. Deine Unterweisung hat mir die Augen geöffnet. Du hast mir gezeigt, dass ich mein Weltbild, meine Empfindungen und Wünsche auf Otis projiziert habe.
Dabei habe ich nicht erkannt, was es wirklich bedeutet, ein Pferd zu lieben und für es da zu sein: nämlich Verantwortung zu übernehmen – auf seine Weise, nicht auf meine.
Ich habe verstanden, dass ich die Fähigkeit besitze, sein Wesen zu erkennen, seine Sprache zu verstehen und mich ihm anzupassen, anstatt von ihm zu erwarten, meine Denkweise oder mein
Weltbild zu übernehmen. Es geht darum, seine Bedürfnisse zu sehen, seine Sprache zu sprechen und so zu handeln, dass er sich in seinem Wesen verstanden fühlt. Nur so können wir wirklich
miteinander kommunizieren – auf seiner Ebene, in seiner Welt.
Durch dich habe ich erkannt, dass wahre Verbindung entsteht, wenn ich ihm Sicherheit gebe, ihn verstehe und ihm Raum lasse, mir in seiner Sprache Fragen zu stellen. Dabei darf ich nicht
versuchen, ihm meine menschlichen Verhaltensweisen oder Erwartungen überzustülpen.
Es war eine schmerzhafte Erkenntnis, zu sehen, dass ich ihm in der Vergangenheit nicht gerecht werden konnte – obwohl ich mir nichts mehr gewünscht habe, als ihm zu helfen. Doch dank dir
durfte ich erleben, wie er sich unter deiner Anleitung entspannt hat, wie er endlich loslassen konnte. Zu sehen, wie gut ihm diese neue Art der Kommunikation tat, war für mich ein
bewegender Moment.
Ich freue mich sehr auf weitere Stunden bei dir. Du hilfst mir nicht nur, die „Übersetzung“ zwischen unserer Welt und seiner zu verstehen, sondern auch zu erkennen, wo mein Ansatz zu
menschlich war und nicht pferdegerecht. Es gibt mir Hoffnung, dass ich die Technik vertiefen kann, um ihm die Sicherheit zu bieten, die er so dringend braucht. Und, was noch wichtiger
ist, das Gefühl entwickeln kann, zu wissen wann er was benötigt um sich besser und wohler zu fühlen.
Ich wünsche mir, die Intuition zu entwickeln, seine Bedürfnisse besser zu erkennen und selbstständig darauf reagieren zu können. Mein Ziel ist es, ihm ein zuverlässiger Partner zu sein,
der ihn in seiner Welt versteht und ihm Vertrauen schenkt.
Danke, dass du mir den Weg dahin zeigst.
Mit herzlichen Grüßen,
Juliane
Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Briefe mit euch teilen darf.
In diesem Sinne und im Sinne des Pferdes
Eure Simone Carlson
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