· 

Bietet Dir Dein Pferd den Ritt an?

Bietet dir dein Pferd den Ritt an?

Wieder einmal war ich auf dem Weg nach Arizona, um bei meinem großen Vorbild Harry Whitney zu lernen. Um die Fortbildung zu finanzieren, hatte ich Jet, ein Einstellpferd von der Ranch, auf der ich arbeitete, im Anhänger. Jet gehörte einem freundlichen Herrn, der jedoch wenig Erfahrung hatte und mit ihm nicht zurechtkam. Das Pferd war bereits in professionellem Beritt, allerdings ohne Erfolg: Jet war schreckhaft, unberechenbar und weit entfernt von einem zuverlässigen Reitpferd. Sein Besitzer hatte sich ein „unverbrauchtes“ Pferd gewünscht, das gut ausgebildet wird, um dann gemütliche Ausritte im Cherry Creek State Park zu genießen – ein Plan, der oft schiefgeht.

Als Mike, Jets Besitzer, erfuhr, dass ich zur Fortbildung fuhr, bot er an, die Kosten zu übernehmen, wenn ich Jet mitnähme, um an seinem Bucking-Problem zu arbeiten. So landete ich nicht mit meinem eigenen Araberschimmel, sondern mit einem Quarter-Horse-Rappen auf dem Trainingsgelände.

Jet benahm sich wie ein untrainiertes Jungpferd: angespannt, kaum ansprechbar. Also begannen wir bei null. Täglich machte er Fortschritte, und am Ende der Woche gelang mir der erste Ritt. Nur ein paar Minuten – aber er ließ sich führen, folgte meinen Signalen, hielt an, wenn ich aufhörte zu reiten, und ging los, wenn ich meinen Fokus auf ein Ziel richtete. Als ich absaß, war ich stolz: Jet war entspannt, frei von Sorge. Das intensive Training hatte ihm gutgetan und ihm einen neuen Zugang zur Mensch-Pferd-Kommunikation eröffnet.

Am  Wochenende nach der ersten Trainingswoche wollte ich nur eine kurze Einheit im Round Pen machen, um das Gelernte zu festigen. Jet war ruhig und ließ sich problemlos satteln. Beim Aufsteigen war er etwas steifer als am Vortag, also bot ich ihm nur leichte Aufgaben an. Doch dann erschien eine Kuh im angrenzenden Flussbett. Gemächlich zog sie vorbei – und Jet spannte sich wie ein Brett an, ehe er buckelnd und galoppierend durchstartete. Plötzlich waren wir im Rodeo-Modus.

Ich wusste nicht, wie ich die Situation retten sollte, als Harrys Stimme rief: „Streichel ihn!“ Ohne nachzudenken, lockerte ich die Zügel, beugte mich vor und legte beide Hände an seinen Hals. Nach weniger als einer Runde beruhigte sich Jet, fiel in Trab und schließlich in Schritt. Zittrig vor Erleichterung sprang ich ab, kaum dass er stand. Harry kam herüber und fragte, was passiert sei. Als ich meine Version erzählte, fragte er mich: „Hat Jet dir den Ritt heute angeboten?“ Erst jetzt begriff ich: Die letzte Woche hatte darauf abgezielt, ob Jet bereit war, mir den nächsten Schritt anzubieten – und ich hatte die Anzeichen übersehen. Mein Ehrgeiz, schnell Fortschritte zu machen, hatte mich blind für Jets Bedürfnisse gemacht. Schon seine Steifheit hätte mir zeigen können, dass er an diesem Tag nicht bereit war. Die Kuh war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Doch warum hatte das Streicheln funktioniert? Harry erklärte: Jet war in einem Tunnel gefangen, und ich hatte ihn durch mein Festhalten darin bestätigt. Das Streicheln durchbrach seine Anspannung, bot ihm eine Alternative, die er annahm, weil seine eigene Strategie nicht funktionierte. Gleichzeitig half es auch mir, aus meiner Anspannung herauszukommen.

Diese Lektion lehrte mich nicht nur Demut, sondern prägte mein weiteres Arbeiten mit Pferden. In den letzten 20 Jahren habe ich gelernt, genau hinzusehen, ob ein Pferd den nächsten Schritt anbietet – und oft in die verständnislosen Gesichter von Besitzern geblickt. Doch es beginnt schon beim ersten Kontakt: Jeder Schritt sollte ein Einverständnis sein.

Das Streicheln in solchen Momenten habe ich seither zweimal weitergegeben: Einmal mit Erfolg bei einer Schülerin in einer ähnlichen Situation, ein anderes Mal konnte ich die Schülerin nicht rechtzeitig erreichen – und sie stürzte. Ob das Streicheln das verhindert hätte? Wer weiß. Deshalb ermutige ich meine Schüler, solche Szenarien gedanklich durchzuspielen, immer und immer wieder, damit sie in Paniksituationen abrufbar sind.

Und was wurde aus Jet? Harry bot Mike an, ihn zu übernehmen. Einer seiner Praktikanten hatte sich in Jet verliebt und erhielt unter Harrys Anleitung die Möglichkeit, eine intensive und fundierte Ausbildung mit ihm zu durchlaufen. Eine ideale Lösung, die für alle Beteiligten passte.

In diesem Sinne – und im Sinne des Pferdes.

 

#Pferdetraining #MenschPferdKommunikation #Horsemanship #Pferdeausbildung #Pferdeverhalten #RespektUndVertrauen #Pferdeliebe #Pferdepsychologie #Reitkunst #QuarterHorse #TrainingMitGefühl #DemutMitPferden #Pferdegeschichten #RodeoErfahrung #PferdImFokus #HorsemanshipLessons #Pferdepraktikum #HarryWhitney #Pferdeerziehung #Pferdeverständnis

Kommentar schreiben

Kommentare: 0