Lehrer oder Schüler - wer lernt mehr?

Da stand ich nun, auf der Aufstiegshilfe, neben dieser wunderschönen, dunkelbraunen Warmblutstute. Stand da mit klopfendem Herzen und zitternden Knien. Dieser Zustand irritierte mich maßlos und ich versuchte zu ergründen, woher das Gefühl kam. Seit meiner Kindheit reite ich, seit meinem frühen Erwachsenenleben sogar beruflich. Es ist meine Passion und meine Berufung, das Reiten und den Umgang mit Pferden zu unterrichten. Um dies meinen Schülern näher zu bringen, steige ich des Öfteren während des Unterrichtens auch selbst aufs Pferd (auch wenn meine Schüler behaupten, dass ich dies viel zu selten tue) und das völlig ohne zitternde Knie oder Herzklopfen! Was also war jetzt anders? Nein, die Stute war mir keinesfalls unheimlich – sie war ein gut ausgebildetes und absolut zuverlässiges Pferd. Auch die Aufstiegshilfe war stabil und in keinster Weise wackelig. Meine Höhenangst beginnt erst ab zwei Metern aufwärts – was war los mit mir?

 

Der Grund für meine Unsicherheit war die Frau, die hinter mir stand. Dabei strahlte sie Ruhe und Souveränität aus – sie konnte keineswegs etwas für meine Unsicherheit, ja – sie schien mir wohlgesonnen zu sein ... Und plötzlich wurde es mir klar: Es war schlicht und einfach die Tatsache, dass ich meine Lehrerrolle an diese Frau abgegeben hatte und diesmal selbst als Reitschülerin aufs Pferd steigen sollte. Allein das Bewusstsein, selbst unterrichtet zu werden, ließ meine gewohnte Ruhe, Souveränität und mein Selbstbewusstsein schwinden. Als ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, musste ich über mich selbst lachen. Ich outete mich vor meiner Lehrerin und das Eis war gebrochen. Was nun folgte, war eine wunderbare und lehrreiche Stunde, aus der ich viel für mich mitgenommen habe.

 

Was möchte ich mit dieser Situation zum Ausdruck bringen? Wir alle sollten hin und wieder in eine andere, neue Rolle schlüpfen! Um ein guter Lehrer zu sein, darf man das Gefühl des Schüler-Seins nicht vergessen und ja – es ist auch gut, wenn man sich manchmal ganz bewusst noch einmal in diese Rolle zurückversetzt! Ja, ich möchte sogar behaupten, nur wer bereit dazu und in der Lage ist, selbst wieder Schüler zu sein, kann sich stetig weiterbilden und lernen. Nur wer gewillt ist, selbst auch zu lernen, kann nachempfinden, wie es dem Schüler geht, der sich ihm anvertraut. All dies ist wichtig und unumgänglich!

 

Es gibt eine weitere Anekdote, die mir dazu einfällt. Es ist schon ein paar Jahre her, als ich an einer Fortbildung bei meinem Trainer Harry Whitney in Arizona teilnahm. Er saß auf einem Pferd im Round Pen, während ich ein Jungpferd ebenfalls im Round Pen sattelte, um es zu reiten. Während ich mit den Sattelgurten beschäftigt war, bemerkte ich, dass sich Harry in seinem Sattel fast verbog, um zu sehen, was genau ich da machte. Da plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz! Ich tat etwas, das ich bei meinen Schülern immer und immer wieder als absolutes No-Go beschrieb! Hier stand ich als erfahrene Ausbilderin und machte einen riesigen Anfängerfehler – bei einem Jungpferd, dem gerade der erste Ritt bevorstand!

 

Unzählige Male weise ich meine Schüler darauf hin, nie, aber auch wirklich niemals, beim Westernsattel den hinteren Bauchgurt zuerst zu befestigen, gefolgt von einem langen Vortrag, warum das so gefährlich ist. Erschrickt das Pferd im Moment des Festgurtens, springt es los oder bockt, kann dieser hintere Gurt den Sattel niemals auf dem Pferd halten, aber leider immer am Pferd. Der Sattel rutscht unter den Bauch des Pferdes und bleibt dort hängen ... wie schnell das Tier nun in Panik geraten kann, mit verheerenden Folgen, ist jedem klar und so ist dieses Tabu absolut verständlich. Und da stand ich – und habe genau das gemacht! Harry musste in meinem Gesichtsausdruck die 1001 Gedanken gelesen haben, die sich meiner bemächtigten. Als ich fassungslos sagte: „Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gemacht habe“, setzte er sich grinsend wieder gerade in seinen Sattel und ritt einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Auch er schien zu wissen, wie es ist, Schüler zu sein!

 

Meine lieben Schüler: auch wir Trainer und Reitlehrer sind Menschen! Wir machen Fehler wie jeder andere auch, wir haben nicht immer Recht und wir lernen immer noch dazu! Immer wieder in die Schülerrolle zu schlüpfen ist also wichtig, und zwar nicht nur aus den oben genannten Gründen. Es gibt noch einen anderen Aspekt: Nicht nur der Schüler lernt vom Lehrer. Jeder Lehrer wird auch von seinen Schülern etwas lernen können! Das betrifft den Reitunterricht oder die Ausbildung von Pferden ebenso wie jede Schule und jeden Ort auf der Welt, an dem gelernt wird: ein guter Lehrer lernt auch von seinen Schülern.

 

Was macht einen guten Pferdeausbilder aus – wie agiere ich als Lehrer? Mit meiner Souveränität gebe ich dem Pferd die Sicherheit, die es braucht, um sich bei mir entspannen zu können. Mit meiner Geduld gebe ich dem Pferd die Ruhe, die es braucht, um für sich selbst Dinge herauszufinden. Mit meinem Enthusiasmus wecke ich die Neugier im Pferd und schicke es auf die Suche nach seiner Lösung. Mit meiner Kompetenz helfe ich dem Pferd, den richtigen Weg leichter zu finden. Mit meiner Leichtigkeit nehme ich dem Pferd die Anspannung. Jedoch wird mir all das nicht helfen, dem Pferd ein verantwortungsvoller und erfolgreicher Trainer zu sein, wenn – ja – wenn was?

 

Wenn ich nicht in der Lage bin, selbst in jeder Sekunde vom Pferd zu lernen, zuzuhören und zu verstehen, was es mir mitteilen möchte. Für einen guten Pferdetrainer ist es meiner Meinung nach so wichtig, gleichzeitig neben der Lehrerrolle auch die des Schüler einnehmen zu können! Ja genau, gleichzeitig! Denn nur, wenn ich in der Lage bin, genau hinzuschauen und zu fühlen, was mir das Pferd durch sein Verhalten über seinen Zustand und seine Gefühle „sagt“, kann ich ihm helfen, aus dieser Übungseinheit mit einem guten Gefühl herauszugehen. Nur wenn ich auf das Pferd eingehe, kann es lernen, sich mir anzuvertrauen. Erst, wenn ich zuhöre, was es mir zu sagen hat, kann es mir im Gegenzug seine Aufmerksamkeit schenken und versuchen zu verstehen, was ich es lehre. Erst, wenn ich bereit bin, von dem mir anvertrauten Pferd zu lernen, bin ich es wert, dass es von mir lernen möchte. Nur wenn ich fähig bin, meine eigene Energie für dieses Pferd einzusetzen, wird es bereit sein, seine Energie zu geben.

 

Aus diesen Gründen ist es so wichtig, dass wir immer unsere Fähigkeit schulen, gleichzeitig aufmerksamer Schüler und wachsamer, leitender Lehrer zu sein. Die Pferde sind uns da weit voraus: Sie können von uns lernen und uns gleichzeitig so viel mehr beibringen! Haben wir den Mut, selbst wieder Schüler zu sein, denn nur dann werden wir erfolgreiche Lehrer!

 

Simone Carlson

 

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