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Entwicklung innerhalb der Komfortzone

Wachstum passiert innerhalb der Komfortzone – ja, wirklich

Warum echte Entwicklung Sicherheit braucht

Ja, genau – du hast richtig gelesen.
Und ja – ich weiß, dass diese Aussage erst einmal irritieren kann. Schließlich predigt ein Großteil der Persönlichkeitsentwicklungsszene das Gegenteil:
„Wachstum beginnt dort, wo deine Komfortzone endet.“

Wir kennen sie alle – die hübsch illustrierten Bildchen mit Kreisen:
In der Mitte die Komfortzone, außen herum die Angstzone, dann irgendwo später die Lernzone und ganz am Rand die Wachstumszone.
Und der Subtext lautet:
„Wenn du nicht mutig genug bist, deine Komfortzone zu verlassen, wirst du niemals wachsen.“

Aber ist das wirklich wahr?
Oder vielleicht sogar eine gefährliche Vereinfachung?
Wird hier nicht suggeriert, dass Wachstum immer auch etwas mit Überwindung zu tun hat?


Was ist eigentlich „Wachstum“?

Wenn ich über Wachstum spreche, meine ich nicht höher, schneller, weiter.
Ich meine nicht den nächsten Erfolg, das nächste Level, die nächste Zertifizierung.
Für mich bedeutet Wachstum etwas viel Intimeres:

  • eine innere Veränderung,
  • eine Verfeinerung der Wahrnehmung,
  • eine tiefere Verbindung zu mir selbst und zu anderen – sei es Mensch oder Tier.

Es bedeutet, mehr zu mir selbst zu finden, Ängste abzulegen. Selbstbestimmt, selbstermächtigt, selbstbewusst.
Es ist die Fähigkeit, neue Perspektiven zuzulassen, alte Muster zu hinterfragen, liebevoller zu werden – mit mir selbst, mit meinem Pferd, mit dem Leben.

Und dieses Wachstum passiert nicht durch Druck.
Es geschieht durch Vertrauen.
Angst und Druck sind hier keine guten Berater!
Ich muss mich sicher fühlen, um mich zu öffnen und bereit zu sein, neue Wege zu gehen.


Und was ist mit der „Komfortzone“?

Auch dieser Begriff wird oft falsch verstanden.
Komfortzone klingt nach Couch, nach Netflix, nach „Ich bleib lieber, wo ich bin, statt mich weiterzuentwickeln.“
Aber das ist zu kurz gedacht.

Die Komfortzone ist in Wahrheit ein innerer Zustand.
Sie beschreibt den Raum, in dem ich mich sicher, geerdet, verbunden fühle.
Ein Zustand, in dem mein Nervensystem entspannt ist, mein Herz offen, mein Geist neugierig.

Und genau dort – in diesem inneren Safe Space – entsteht wahres Lernen.


Ein Beispiel aus der Pferdewelt

Lass uns das mal auf die Pferdearbeit übertragen.

Stell dir ein Pferd vor, das in großer Sorge ist, an einem Holzstapel mit einer gruseligen Plane vorbeizugehen.
Bei vielen ist hier der Ansatz: „Wenn es merkt, dass die Plane nicht beißt und wir irgendwie vorbeikommen, lernt es fürs Leben!“

Was passiert dann?

Vielleicht funktioniert es irgendwann.
Vielleicht geht es an der Plane vorbei – aus Resignation.
Vielleicht gewöhnt es sich dran.

Aber:
Hat es wirklich etwas gelernt?
Hat es Vertrauen aufgebaut?
Hat es sich weiterentwickelt – oder einfach nur angepasst?

Das Pferd überwindet vielleicht die Stelle, weiß aber: „Das hat sich nicht gut angefühlt.“

Ganz anders sieht es aus, wenn du dir Zeit nimmst.
Wenn du wartest, bis das Pferd innerlich ankommt.
Wenn du Verbindung herstellst, seine Körpersprache liest, präsent bleibst.
Wenn du einen Raum schaffst, in dem es sich sicher fühlt – dann entsteht echtes Lernen.

Wenn es also genug Vertrauen in sich selbst (bestenfalls) und in seinen Menschen hat, kann es entspannen. Und lernen.

Ich überschreite in diesen Fällen nicht die Komfortzone des Pferdes.
Ich schaue, in welchem Abstand zur Plane es sich noch wohlfühlt – und dort setze ich an.
Hier sind wir noch in der Komfortzone.
Mit einem einzigen Schritt näher zur Plane, um wieder Entspannung zu finden, dehne ich die Komfortzone aus –
ich durchbreche sie nicht.
Und das ist Wachstum.
Innerhalb der Komfortzone.


Auch wir Menschen lernen so

Es ist bei uns Menschen nicht anders.

Wenn wir mit Druck konfrontiert sind, wenn wir uns bedroht oder überfordert fühlen, dann schließen wir uns.
Unser Nervensystem geht in den Überlebensmodus: Kampf, Flucht oder Erstarrung.
Da findet kein echtes Lernen statt – da funktionieren wir nur.

Aber wenn wir uns sicher fühlen – wenn wir spüren:
„Ich werde gesehen, ich werde gehalten, ich darf neugierig sein, ohne verurteilt zu werden“
dann beginnt unser System, sich zu öffnen.

Dann sind wir bereit, uns selbst zu hinterfragen, neue Wege zu gehen, uns zu verändern.


Was heißt das für die Pferdearbeit – und für uns selbst?

Es heißt:
Wir müssen die Komfortzone nicht verlassen, um zu wachsen.
Wir dürfen sie erweitern – in unserem Tempo, im Tempo unseres Pferdes.

Denn was ist der wahre Wert von Entwicklung,
wenn dabei Vertrauen zerbricht?
Was ist das Ziel von Wachstum,
wenn die Verbindung auf der Strecke bleibt?

Wenn wir mit einem Pferd arbeiten und es dabei in seiner Komfortzone bleibt
und sich trotzdem entfaltet, lernt, neugierig wird, mutiger wird
dann ist das kein Rückschritt.

Dann ist das große Kunst.

Und wenn wir das Gleiche bei uns selbst zulassen –
dann ebenso.


Wachstum braucht Verbindung – nicht Überwindung

Es ist an der Zeit, diesen alten Glaubenssatz –
„Nur außerhalb der Komfortzone wächst du wirklich“ – zu hinterfragen.

Nicht alles, was unbequem ist, ist automatisch wertvoll.
Und nicht alles, was sich sanft und stimmig anfühlt, ist automatisch Stillstand.

Vielleicht ist deine Komfortzone kein Käfig.
Vielleicht ist sie dein Nest.
Ein Ort, an dem du dich sammeln kannst.
Ein Ort, an dem du dein Nervensystem beruhigst.
Ein Ort, von dem aus du neugierig hinausblickst –
und dann, vielleicht eines Tages, von ganz alleine einen Schritt darüber hinaus wagst.

Nicht, weil du musst.
Sondern, weil du kannst.
Und dasselbe gilt für dein Pferd.

 

In diesem Sinne – und im Sinne der Pferde.

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