· 

Hilfe ich habe einen Kleber

Hilfe, ich habe einen Kleber!
Ein absolut nicht politischer Artikel!
Ganz zu Anfang meiner Zeit als Pferdetrainerin war ich überwiegend mobil unterwegs. Ich habe somit sehr viele Stall- und Haltungskonzepte kennengelernt. Pferde in Boxenhaltung, Herdenhaltung und in Zweierkonstellationen betreut. Ein häufiges Problem, das sich auf unterschiedlichste Weise gezeigt hat, war das des Klebens.
Gezeigt hat sich das deutlicher in den Haltungskonzepten, in denen zwei Pferde privat gehalten wurden. Aber auch in größeren Herden kam es immer wieder vor, dass das Kleben die Ursache vieler anderer Probleme war. Sei es, dass das Pferd nicht vom Stall wegwollte oder viel zu schnell wieder zurück. Oder schlichtweg unsicher war, wenn es nicht bei seinem Wunsch-Buddy war.
Ich erinnere einen sehr schönen Selbstversorgerstall, mit zwei Pferden, tolle große, stabil gebaute Boxen, in denen die Pferde nachts untergebracht waren, eine große Wiese mit Baumbestand und Schatten, am Ende des Grundstücks ein Round Pen und angrenzend ein kleiner Reitplatz. Obwohl all das auf weniger als zwei Hektar Land begrenzt war, waren Round Pen und Reitplatz nicht vom Stall einsehbar, aber weniger als fünf Minuten voneinander entfernt.
Die Stute reagierte extrem gestresst immer dann, wenn der Wallach gearbeitet werden sollte. Sie stand in der Box und war binnen zehn Minuten Trennung schweißbedeckt. Da sie auch bereit war, durch Zäune zu rennen, wenn man ihr ihren geliebten Wallach nahm, hielt man es für sicherer, sie in der kurzen Zeit, in der der Wallach im Round Pen oder auf dem Platz war, sicher in der Box zu wissen.
Ich empfahl, die Einheiten kurz zu halten und Jack immer wieder zurückzuführen, damit Tinkerbell lernen würde, dass er immer wieder kommt. Wir gingen davon aus, dass sie lernen würde, sich mehr zu entspannen, wenn sie die Erfahrung macht, dass Jack nach kurzer Zeit zurückgebracht wird.
Trennungsangst ist die Ursache des Klebens und zeigt sich – oder versteckt sich – in vielerlei Symptomen, manchmal sehr subtil, manchmal sehr deutlich. Tatsache ist, dass das Herdentier Pferd in drei Aspekten Sicherheit finden kann: In sich selbst, in seiner Herde und in seiner Umgebung.
Sicherheit – in sich selbst:
Viele Pferde scheinen sicher innerhalb ihrer Komfortzone. Sie können innerhalb ihrer Herde sogar so selbstbewusst auftreten, dass sie als Herdenchef angesehen werden. Nimmt man sie jedoch aus der Herde und aus ihrer gewohnten Umgebung heraus, so kann sich das Bild ganz schnell verändern – und aus dem selbstbewussten Draufgänger wird plötzlich ein Angsttier, das sich bei jeder Gelegenheit im Gelände losreißt und zurück zur Herde rennt. Ja, auch das hat oft das Trennungsproblem als Ursache.
In ihrer Herde:
Pferde brauchen ihre Herde, um sich sicher und gut zu fühlen. Ich glaube, von den drei Faktoren ist die Herde die wichtigste. Man kann den Stall wechseln – solange die gewohnten Kumpel dabei sind, ist das nur halb so schlimm. Nimmt man aber einem Pferd die komplette Herde und lässt es in der gewohnten Umgebung zurück, setzt man es extremem Stress aus.
Die gewohnte Umgebung:
Diese gibt soweit Sicherheit, solange auch die Herdenbuddys vor Ort sind. Zur gewohnten Umgebung können auch Reitwege in der Nähe des Stalls gehören, die das Pferd auswendig kennt. Gewohnte Spazierrunden rund um den Heimatstall können bald ebenfalls zur gewohnten Umgebung gehören, die Sicherheit gibt.
Wer jetzt genau aufgepasst hat, konnte feststellen, dass es keinen Faktor „Futter“ gibt, um das Gefühl von Sicherheit zu gewährleisten. Tatsächlich ist es so, dass ein Pferd meist in einem entspannten Zustand Futter aufnimmt. Ist der Stress zu groß, die Anspannung zu viel, hören sie auf, Futter zu sich zu nehmen. Pferde sind nur so lange futterfixiert, wie es ihnen gut geht – solange sie entspannt sind. Ist die Anspannung zu groß, verlieren sie das Interesse an Futter sehr schnell.
Wer hat es nicht schon selbst erlebt: Der geliebte Boxennachbar ist weg, und schon geht es los. Das Pferd läuft gestresst auf und ab, in der Box, manchmal auch im Kreis. Es läuft, bis es anfängt zu schwitzen – und hört erst wieder auf, wenn der Kumpel zurückkommt. Pferde rennen durch Zäune, um anderen Pferden näher zu sein – nicht, um ein paar Leckerli zu bekommen. (Vom Durchlaufen der Zäune, weil das Gras auf der anderen Seite höher ist, mal abgesehen – das hat eher mit mangelndem Strom am Zaun zu tun.)
Fehlt einem Pferd die Sicherheit durch die Herde, ist es zu sehr vielem bereit – zu viel mehr, als wenn ihm Futter fehlt.
Das Arbeiten mit Futter als Belohnung funktioniert sehr häufig, meist, solange keine Stressfaktoren vorhanden sind. Würde man einen Test machen, was das Pferd bevorzugt – Futter oder Sicherheit durch die Herde –, würde es sicherlich die Herde vorziehen.
Pferde sind bereit, sehr extreme Dinge zu tun, um die Nähe anderer Pferde zu haben. Dinge wie: schwitzend am Zaun auf und ab laufen, durch Zäune rennen etc. Kein Pferd würde solche Dinge für ein paar Happen Gras oder einen Eimer Hafer tun. Aber für Verbindung, für Nähe – ja. Denn: Für die meisten Pferde ist das Gefühl, allein zu sein, eine echte Bedrohung.
Keine Nahrung zu haben, ist unangenehm. Aber allein zu sein? Das fühlt sich für viele Pferde an wie ein Überlebenskampf.
Natürlich können wir ihnen durch gute Erfahrungen beibringen, dass Alleinsein nicht immer gefährlich ist. Wir können ihnen zeigen, dass auch wir Sicherheit geben können – dass sie uns vertrauen dürfen. Aber wir dürfen nie vergessen: Der Wunsch nach Gemeinschaft ist ihnen in die Seele geschrieben. Wir können lernen, mit dieser Sehnsucht umzugehen – aber wir werden sie nie ganz „wegtrainieren“. Und das ist auch gut so.
Ich habe es immer wieder erlebt, dass Pferde, die sich vorher nicht ausstehen konnten, plötzlich Freunde wurden – oder sich zumindest duldeten. Viele kennen den Trick, sie gemeinsam in den Anhänger zu stellen, sie eine Weile durch die Gegend zu fahren – nach dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Auch gemeinsame Ausritte und ein Aufenthalt irgendwo nur zu zweit verbindet – und so entstehen Freundschaften. Weil sie gemeinsam etwas erlebt haben. Weil sie nur einander hatten in diesem fremden Moment. So tief reicht ihr Bedürfnis nach Verbindung.
Es ist sicher jedem klar, dass Beziehung, Nähe und Gemeinschaft für Herdentiere keine Nebensache sind – sondern der Kern von allem. Was kann ich also tun, wenn mein Pferd extrem an seinem Boxennachbarn hängt und klebt?
Zusammengefasst: Du musst den Platz einnehmen, den sonst andere Pferde füllen würden.
Die lange Antwort? Es geht darum, in der Lage zu sein, dem Pferd immer wieder ins Wohlbefinden zu verhelfen. In jeder Situation Stress nehmen zu können. Zu spüren, wie ein Pferd denkt und fühlt.
Wir sollten niemals versuchen, diesen Teil der Pferdeseele zu unterdrücken. Im Gegenteil: Wir dürfen ihn anerkennen. Und wir können ihn nutzen – auf eine liebevolle, ehrliche Weise. Wir dürfen für unser Pferd bedeutend sein. Wir dürfen Geborgenheit schenken, Vertrauen aufbauen, Heimat werden. Ich weiß, das kostet Zeit, Geduld, Feingefühl. Aber ich habe erlebt, wie Pferde freiwillig – ganz ohne Futter oder Zwang – mich zu ihrem „Herdenmitglied“ gemacht haben. Weil ich für sie da war. Weil ich sie mit all ihren Bedürfnissen gesehen habe.
Ich möchte jetzt keine Anleitung geben wie man kleben bei Pferde weg trainiert, Es geht darum, dass wir diese Angst verstehen – nicht als Schwäche, sondern als Teil eines großen, uralten Instinkts. Ein Instinkt, der uns alles erzählen kann über das Wesen des Pferdes – wenn wir bereit sind zuzuhören.
Dieser Instinkt sollte mitdenken, wenn wir entscheiden, wie wir unser Pferd halten. Wie wir es trainieren. Wie wir es behandeln. Wie wir es ansprechen. Wie wir ihm begegnen.
Oft denken wir erst an die Herdenbindung, wenn sie uns „im Weg“ ist. Aber sie ist immer da. Sie entscheidet mit – bei jeder Reaktion, jeder Bewegung, jedem Schritt. Sie lässt sich nicht einfach abschalten. Sie ist da – manchmal leise, manchmal laut. Sie ist da. Immer.
Je mehr wir es also schaffen, wichtig für unser Pferd zu werden, umso sicherer wird es sich mit uns fühlen, umso mehr können wir für das Pferd Teil der Herde sein – zumindest, was den Sicherheitsaspekt betrifft.
Und was ist nun aus Tinkerbell geworden, der großen Stute – der treuen Freundin von Jack?
Eines Tages, nachdem Jack mit seinem Besitzer vom Reitplatz zurückkam, lag Tinkerbell leblos in ihrer Box. Man vermutet, sie hatte einen Herzinfarkt. Die Trennung, so kurz sie auch war, hat ihr das Herz gebrochen – vielleicht wortwörtlich.
Nicht alle Geschichten haben ein Happy End. Aber sie alle erzählen uns etwas. Tinkerbells Geschichte erinnert uns daran, wie tief Pferde empfinden. Wie sehr sie verbunden sind – miteinander, mit ihrer Umgebung, mit ihrer Herde. Und wie sehr sie auf unsere Achtsamkeit angewiesen sind.
Wenn wir das wirklich begreifen, dann sehen wir in einem „Kleber“ nicht länger ein Problem, das es zu lösen gilt. Sondern ein Lebewesen, das uns etwas sagen will. Etwas über Nähe, über Vertrauen – und über das, was es heißt, nicht allein zu sein.
Vielleicht beginnt genau dort wahre Kommunikation und Verbindung.
Nicht im perfekten Training – sondern im tiefen Verstehen.
In diesem Sinne und immer im Sinne des Pferdes
Simone

Kommentar schreiben

Kommentare: 0