Die verborgenen Wunden

Die unsichtbaren Wunden:
Psychische Misshandlung im Pferdetraining: Ein Weckruf für mehr Bewusstsein
Es war ein heißer Sommertag, als ich während einer Fortbildung in einer staubigen Reithalle saß. Ein Trainer, der mir empfohlen wurde, bot Einzelstunden an, bei denen man auch anderen Unterrichtseinheiten zusehen konnte. Eine vielversprechende Gelegenheit, Neues zu lernen – so dachte ich jedenfalls. Doch was ich an diesem Tag erlebte, ließ mich nicht nur zweifeln, sondern zutiefst erschüttert zurück.
Eine Szene, die alles veränderte
Im Zentrum der Halle stand eine bildschöne, zierliche Vollblutstute, die scheinbar zum Travers (Kruppe herein) angeleitet werden sollte. Doch schon nach wenigen Minuten wurde deutlich: Weder das Pferd noch ich als Beobachter verstanden die Hilfengebung des Trainers. Die Stute, nervös und angespannt, bot in ihrem verzweifelten Bemühen alle Seitengänge an, die sie kannte, doch nichts schien richtig zu sein. Mit jedem erfolglosen Versuch wurde ihr Verhalten hektischer, ihre Bewegungen explosiver.
Die Situation eskalierte, als sie schließlich aus Frust und Überforderung stieg. Was dann geschah, war ein Wendepunkt: Der Reitlehrer ließ die Reiterin absteigen, zog die Gerte und schlug das Pferd mehrfach auf Brust und Schulter. „Das muss sie lernen“, erklärte er kalt. „Steigen ist keine Option.“ Seine Rechtfertigung schockierte mich fast noch mehr als die Tat selbst: Er verglich sein Handeln mit einer Ohrfeige für ein „hysterisches Kind“, um es „wieder zur Besinnung zu bringen“.
Ich saß stumm in der Ecke, unfähig, etwas zu sagen. Meine Rolle als stille Schülerin, die gekommen war, um zu lernen, fühlte sich plötzlich wie Verrat an der Stute an. Noch am Mittagstisch, als er seine Tat nochmals rechfertigte, widersprach ich schwach, dass ich meine Kinder nicht so erziehen würde. Doch meine Worte blieben kraftlos.
Wissenschaftliche Perspektive: Was passiert mit einem gestressten Pferd?
Pferde sind Fluchttiere, deren Überlebensinstinkt tief in ihrem Wesen verankert ist. In Stresssituationen aktiviert ihr Körper das sympathische Nervensystem, wodurch der Adrenalinspiegel ansteigt. Diese physiologische Reaktion ermöglicht es dem Pferd, schneller zu flüchten oder sich zu verteidigen. Doch in einer Trainingssituation, in der keine klare Fluchtmöglichkeit besteht und der Druck immer weiter steigt, kann dies zu einer Überforderung führen. Das Tier gibt auf, oder bäumt sich nochmal auf, weil es keine andere Option mehr sieht. Dies ist nicht Lernen, sondern Unterwerfung. Und im höchsten Maße psychische Misshandlung!
Genau das geschah mit der Stute. Sie verstand weder, was von ihr verlangt wurde, noch hatte sie eine Möglichkeit, sich aus der Situation zu befreien. Die Folge war nicht nur physischer Schmerz durch die Schläge, sondern auch massiver emotionaler Stress. Dieser wirkt oft langfristiger und destruktiver als körperliche Gewalt. Studien zeigen, dass chronischer Stress bei Pferden zu Verhaltensauffälligkeiten, Magen-Darm-Problemen und sogar zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen kann. Was jedoch oft unerkannt bleibt ist die Tatsache, dass die Einheit an diesem Punkt beendet war. Das Pferd wurde geistig verwirrt zurückgebracht und verstand die Welt nicht mehr.
Am nächsten Tag: Ein zerbrechliches Wesen
Am nächsten Morgen kam die Stute erneut in die Halle. Doch diesmal war sie zu Beginn der Session nicht locker und neugierig wie am Tag zuvor. Schon beim Betreten des Platzes war sie nervös, hibbelig und deutlich unkonzentriert. Der Trainer versuchte einen anderen Ansatz: Er arbeitete mit Volten, Zirkeln und Richtungswechseln, um sie zu beruhigen. Doch trotz aller Bemühungen war klar: Die psychischen Wunden des Vortages saßen tief. Ihr Geist war überfordert, ihre Seele angeschlagen. Der Trainer beendete die Einheit mit den Worten: „Wir haben zwar nicht viel erreicht, aber wir haben auch nichts kaputt gemacht.“ Doch das war falsch. Das, was kaputt war, hatte er bereits gestern zerstört.
Psychische Misshandlung: Die unsichtbaren Wunden
Wenn wir über Misshandlung im Pferdesport sprechen, denken die meisten zuerst an offensichtliche körperliche Gewalt: den Schlag mit der Gerte, den unsachgemäßen Einsatz von Sporen oder den übertriebenen Zügeldruck. Doch psychische Misshandlung ist oft subtiler – und ebenso schädlich. Sie beginnt dort, wo ein Pferd durch unklare oder überfordernde Anweisungen in einen Zustand der Verwirrung gerät. Lässt man dann das Pferd mit dieser Verwirrung zurück, so spricht man von psychischer Misshandlung!
Die Stute aus meiner Geschichte wurde nicht erst misshandelt, als die Gerte eingesetzt wurde. Die Misshandlung begann in dem Moment, als sie nicht verstehen konnte, was von ihr verlangt wurde, und niemand ihr half, Klarheit zu finden. Die unbarmherzige Wiederholung derselben Hilfen, das Ignorieren ihrer Verzweiflung – all das war psychische Gewalt. Und dann das abbrechen, nach den Schlägen, das hinterlässt ein geistig verwirrtes Pferd, das nicht weiß wie ihm geschehen ist.
Sensibilisierung für psychische Misshandlung:
Emotionaler Stress und Verwirrung sind nicht weniger schädlich als körperliche Gewalt. Es braucht mehr Aufklärung, um diese subtilen Formen der Misshandlung zu erkennen.
Warum wir anders handeln müssen
In der Ausbildung eines Pferdes kann das Adrenalin durchaus mal höher steigen. Das liegt daran, dass Pferde an Verhaltensmustern festhalten, wenn sie überzeugt sind, dass diese ihr Überleben sichern oder sie vor Schmerz bewahren. Dabei ist es irrelevant, ob das Verhalten sinnvoll oder unsinnig ist. Solange das Pferd glaubt, dass ein bestimmtes Verhalten lebenserhaltend ist, wird es daran festhalten. Um das Pferd davon zu überzeugen, dass dieses Verhalten nicht mehr notwendig ist, kann es erforderlich sein, eine kurze Stressphase zu durchlaufen. So lernt das Pferd, dass es sicher ist, auch wenn es das Verhalten nicht mehr zeigt. Es ist, als würde man dem Pferd helfen, durch einen Tunnel zu gehen, an dessen Ende das Leben schöner wird.
Ein Beispiel: Ein Pferd ist extrem kopfscheu, weil es möglicherweise in der Vergangenheit schmerzhafte Erfahrungen gemacht hat, als es am Kopf berührt wurde. Um seinen Kopf zu schützen, reißt es ihn reflexartig hoch oder schleudert ihn zur Seite – eine Reaktion, die mit der Zeit immer schneller und geschickter wird. Durch zahlreiche erfolgreiche Versuche, Berührungen zu entkommen, verstärkt sich die Überzeugung des Pferdes, dass es lebenswichtig ist, den Kopf hochzureißen, um Verletzungen zu vermeiden.
Um das Pferd an ein entspanntes Verhalten beim berührt werden zu gewöhnen, kann es notwendig sein, dass der Adrenalinspiegel zunächst steigt. Nur so kann das Pferd neue Erfahrungen machen, die ihm zeigen, dass es nicht verletzt wird. Aus meiner Sicht ist diese Methode gerechtfertigt, weil sie das Pferd schnell davon überzeugt, dass das alte Verhalten überflüssig ist. So ersparen wir ihm langfristig großen Stress und emotionalen Schmerz.
Mein Appell:
Aufstehen und sprechen
Dieser Vorfall hat mich dazu gebracht, mein eigenes Verhalten zu hinterfragen. Bisher habe ich mich in Fortbildungen zurückgehalten, um zu lernen und nicht zu stören. Doch Schweigen bedeutet Zustimmung. Es ist unsere Verantwortung als Reiter, Trainer und Beobachter, Missstände anzusprechen – nicht nur für das Wohl der Pferde, sondern auch für die Weiterentwicklung unseres Sports.
Psychische Misshandlung bleibt oft unerkannt, doch sie hinterlässt tiefe Narben. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Sensoren dafür schärfen und ein Bewusstsein schaffen, wo bisher Ignoranz herrschte. Immer dann, wenn ich ein Pferd verwirrt zurück lasse, ist das psychische Misshandlung! Das Wohlergehen des Pferdes sollte immer an erster Stelle stehen.
• Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht, bei denen ihr euch machtlos gefühlt habt? Wie hättet ihr an meiner Stelle gehandelt?
• Was bedeutet für euch pferdegerechtes Training? Wo zieht ihr die Grenze zwischen Lernen und Überforderung?
• Denkt ihr, dass genug über psychische Misshandlung im Pferdetraining gesprochen wird? Wie könnten wir das Bewusstsein dafür schärfen?
Lasst uns gemeinsam für einen respektvollen Umgang mit unseren Pferden einstehen. Jede Stimme zählt, um ein Bewusstsein für pferdegerechtes Training zu schaffen und Missstände zu vermeiden. Ich freue mich auf eure Gedanken, Erfahrungen und Anregungen in den Kommentaren. Gemeinsam können wir etwas bewegen – Im Sinne des Pferdes
Eure Simone Carlson

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