Appache

Es war die letzte Stunde, die ich an diesem Tag gegeben habe, an einem für mich eher ungewöhnlichen Ort: eine mega-große Reitanlage, vom Feinsten, mit Hotel und Wohnanlage, großen Reitplätzen, großen Reithallen (ja, die Mehrzahl ist korrekt), Bewegungsstall, mit wenig Bewegungsanreizen. Auf den ersten Blick könnte man meinen: ein Stall, den man wählt, um gesehen zu werden; große Autos, man kennt sich, man zeigt, was man hat. Aber das ist letztlich meist reine Interpretation, und davon nehme ich Abstand. Ich gebe in jeder Stunde und mit jedem Pferd mein Bestes, um den Weg zur Verbundenheit eines Menschen mit seinem Pferd zu unterstützen, ganz gleich, wie ausweglos es zuerst scheinen mag, ganz gleich, wie groß und unüberwindbar diese Aufgabe manchmal wirkt. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass es sich immer lohnt, Bewusstsein zu wecken, Samen zu streuen, zu unterstützen, zu unterrichten. Oft entwickeln sich daraus wunderschöne Partnerschaften, basierend auf gegenseitigem Vertrauen und Verständnis. 

Es war erst meine zweite Stunde mit diesem Pferd-Mensch-Paar. Appache habe ich früher mit seiner Besitzerin eine Weile begleitet, er war damals sehr außer sich, ängstlich und dadurch auch ein Stückweit gefährlich. Seitdem ist einiges passiert. Appache hat den Stall gewechselt, ist dadurch etwas ausgeglichener. Seine Besitzerin ist derzeit mit dem Studium beschäftigt, und deshalb hat eine junge Frau sich seiner angenommen. In der ersten Stunde war ich überrascht, als sie mir mitteilte, dass sie ihn mittlerweile reitet. Als ich gesehen habe, was sie damit meinte, war ich verblüfft. Denn Appache war immer noch nicht eingeritten. Er lief mit seiner Reiterin kreuz und quer, angespannt und nervös auf dem Gebiss kauend unkontrolliert (aber im Schritt) durch die riesengroße Halle. Ich selbst würde mich niemals auf ein Pferd mit diesem Ausbildungsstand setzen. Es war wohl der Unbedarftheit und Unwissenheit der Reiterin zu schulden, dass sie es dennoch tat. 

Wo fange ich an …? Oft bin ich im Zwiespalt, denn nicht immer ist das, was das Pferd braucht, auch das, was der Mensch in dem Moment annehmen kann. Am Anfang zu viel vom Menschen erwarten, auch wenn es für das Pferd das richtige wäre, führt häufig dazu, dass der Mensch abspringt. Damit ist niemandem geholfen. Wenn man etwas verändern möchte für die Pferdewelt – und das ist meine Mission seit vielen Jahrzehnten –, dann muss man den Menschen da abholen, wo er steht, damit man auf lange Sicht ein Bewusstsein schaffen kann für das Pferd. Das ist der Weg, den ich gehen möchte. Mit dem Kopf durch die Wand, verliere ich zu viele Menschen für die Verbindung „Im Sinne des Pferdes“, und damit verschließe ich diese Tür für die Pferde – diese Tür in eine andere Welt, eine Welt des gegenseitigen Annehmens und Verstehens, eine Welt jenseits der Dominanz, der Machtspiele, des Egos. Und genau dahin möchte ich meine Schüler mit ihren Pferden begleiten. Ich wäge also ab: Was tut dem Pferd gut, wo kann der Mensch mitgehen?

Was hätte Appache gebraucht? Freilaufende Bodenarbeit, Vertrauensaufbau, Beziehungsarbeit, sich selbst spüren, sein Gegenüber spüren. Was konnte ich ihm geben? Trensenarbeit am Boden, dazu war die junge Frau bereit. Hier ging es jedoch nicht um Gymnastizierung, obwohl ich diese Art der Arbeit eigentlich dazu anwende. Hier ging es um Energie aufbauen, Sicherheit geben, indem man klare Signale und weiche, gut verständliche Führung gibt. Und Appache konnte beginnen zu entspannen. Dann der gewagte Schritt, ob sie sich heute draufsetzen könnte? Denn in dieser Gesellschaft reitet man Pferde. OK, ich ließ mich darauf ein. Sofort kam der Stress in Appache hoch, angespanntes „im Schritt durchgehen“. Ich lief neben ihm, gab ihm Halt. So geht es, so kann er sich an mir orientieren, er läuft etwas ruhiger, aber immer noch sehr nervös auf dem Gebiss kauend. Jetzt beschäftigen, gleichzeitig am Sitz arbeiten, es soll ein Sich-selbst-Tragen und Mitgehen werden, keine entgegengesetzte Bewegung – all das in eine Unterrichtseinheit packen, ist oft eine große Herausforderung. Wir arbeiten am dynamischen Becken, an der Tiefenmuskulatur, „ja du musst deinen Rumpf selbst tragen, nein das ist nicht immer einfach. Lass dich auf seine Bewegung ein, gehe mit, jetzt verlangsame dein Becken für ein paar Schritte, lade ihn ein, auch im Tempo runterzufahren. Er kann nicht mitgehen? Dann geh du mit ihm mit, pass dich im Rhythmus wieder ihm an. Jetzt schlage es ihm wieder vor. Es geht noch immer nicht? Das darf sein, geh’ wieder bei ihm mit. Wenn er nicht mit dir mitgehen kann, dann geh du mit ihm mit. Sei für ihn da, begleite ihn und schlag ihm immer wieder vor, sich auf dich ein zu lassen.“ Für die Reiterin war das eine Aufgabe, die sicherlich eine gefühlte Ewigkeit dauerte – nervenaufreibend und vor allem sehr unspektakulär – was soll das bringen? Bis zu dem Moment, in dem Appache zum ersten Mal annehmen konnte, was ihm seine Reiterin vorschlug; sein Schritt wurde ruhiger, er konnte abschnauben, sich darauf einlassen, von oben geführt zu werden. Die Sorge fiel (wenn auch nur kurz) von ihm ab. Er konnte dies noch nicht lange halten, aber jetzt, da er es einmal fühlen und immer wieder finden konnte, begann er sogar, danach zu suchen. 

Dieser magische Moment erfüllte mich mit so viel Ehrfurcht, dass ich auf dem Nachhauseweg noch immer nicht das Ausmaß von dem, was da geschehen ist, ganz fassen konnte. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie besonders, wie magisch, wie wertvoll diese Philosophie, diese Lebenseinstellung „Im Sinne des Pferdes“ ist. Tiefe Dankbarkeit erfüllt mich immer dann, dass ich diesen Weg gehen und auch lehren darf.